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In die Stadt! Eine kurze Überlegung darüber, warum manche Metropolen regelrechte Ikonen sind

Montag, Mittagszeit. Ratlos blicke ich auf die Hausnummern – 27, 28, 9, 15. Wo, zum Teufel, ist die Zehn? Mit der sonderbaren Nummerierung Berliner Straßen habe ich bereits meine Erfahrungen gemacht. Aber das ist jetzt doch etwas zu viel des Guten und dazu bin ich in Eile. Ehre hin oder her, ich hole mein Handy heraus und schalte das Navi ein. Es schickt mich lediglich über die Straße in den Hof. Das war zu erwarten, in der Umgebung gibt es eine Menge solcher Winkel. Endlich stehe ich vor der richtigen Tür.

Hinter ihr, im Architekturbüro Topotek 1, summt es wie in einem Bienenstock. Es sieht nicht so aus, als würde hier bald jemand Pause machen. Die Angestellten hauen in die Tasten, tragen Styropormodelle hin und her und diskutieren flüsternd. Die großen Fenster, durch die Sonnenstrahlen auf ihre Tische fallen, wurden für den dort damals ansässigen Handwerkerverein entworfen und der gesamte Gebäudekomplex diente als Zentrum der Arbeiterbewegung. Auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sprachen hier. Während des Kriegs wurden im Hauptsaal NS-Flugblätter hergestellt. Und heute dienen die Sophiensäle hauptsächlich wieder Handwerk, Kultur und Kunst.

Vergangenheit und Zukunft – das sind die Themen, wegen derer ich mich mit dem international anerkannten Architekten Martin Rein-Cano in eine ruhigere Ecke des geräumigen Studios setze. Mehr als nur dieses Gebäude interessieren mich allerdings Städte, besonders Prag und Berlin. Wie sieht er beide Städte heute und was prophezeit der in Buenos Aires geborene Baufachmann für die Jahre, die vor uns liegen?

„Berlin lebt durch die vielen, sehr starken Gegensätze und das ist das Gute an der Stadt,“ sagt Rein-Cano. Die deutsche Metropole vergleicht er mit einem erwachsen werdenden, etwas frechen und coolen Teenager. „Jede Stadt ist eine Persönlichkeit. Berlin ist als junger, sich ständig ändernder Ort interessant. Wenn hier eines Tages alles fertig gestellt sein wird, könnte es langweilig werden. Sehr hübsche Schulkinder werden später oft nicht die besten Erwachsenen. Und umgekehrt,“ lächelt der Architekt. „Ich weiß nicht, ab Berlin es als Erwachsener auf das Level von Paris, London oder New York schaffen wird, den „Ikonen“ unter den Weltstädten. Vielleicht, vielleicht auch nicht,“ überlegt er und fügt hinzu, dass alles daran liegen würde, ob Berlin es schaffen wird, seine eigene, einzigartigen Geschichte zu wahren und zu kultivieren.

„Berlin verkörpert zweifellos die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Alles, was sich damals historisch abgespielt hat, ist eine Nummer kleiner in Berlin passiert. Die Revolution, beide Weltkriege, die Aufteilung der Welt in einen kommunistischen und einen kapitalistischen Block. Das ist einer der Gründe, weshalb Menschen hierherkommen – um Geschichte zu sehen,“ meint Rein-Cano. Seiner Meinung nach kommt es nur auf die Einwohner an, wie sie mit diesem Erbe umgehen. In die städtische Verwaltung setzt er dabei keine großen Hoffnungen. „Die guten Sachen, die hier passieren, gehen nicht auf das Konto von Politikern oder Intellektuellen,“ sagt Rein-Cano. Die besten Projekte sind hier in den letzten Jahren wohl dem unikaten Mix aus Freiraum, relativ niedrigen Preisen und Freigeist zu verdanken. Es bleibt die Frage, ob diese kreative Mischung der Stadt auch weiterhin erhalten bleibt.

Über Prag lässt sich sagen, dass die Stadt im Vergleich mit Berlin schon erwachsen ist. Und statt an jugendlichen Exzessen eher an den ersten Falten leidet. Nach Rein-Cano werden diese vor allem durch die Überschwemmung der Stadt mit Touristen verursacht: „Tourismus ist wie Prostitution,“ sagt der sympathische 50-Jährige. „Sie kommen, benutzen Sie, bezahlen, aber zu einem wirklichen Austausch kommt es nicht. Wenn Sie Touristen erlauben, Sie zu fotografieren, sind Sie vielleicht für eine Weile trendy. Wie eine junge Prostituierte. Wenn Sie dann älter werden, schauen sie sich nach etwas anderem um. Ich glaube nicht, dass das eine Zukunft hat. An einem gewissen Punkt wird das schief gehen,“ warnt er.

Das Entgegenkommen Prags den Touristen gegenüber erstaunt ihn vor allem vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit der tschechischen Gesellschaft den Zuzug von Menschen aus anderen Kulturkreisen ablehnt. „Die Stadt für Touristen so weit zu öffnen, wie es Prag tut, ist für mich tatsächlich schlimmer, als irgendeine Form von Immigration. Die Stadt wird somit ernsthaft geschädigt,“ meint der Architekt. Er bestreitet nicht, dass Deutschland viel Mühe mit der Integration der hunderttausenden Flüchtlinge hat, die in den letzten Jahren ins Land gekommen sind. „Das ist nicht leicht und es war möglicherweise naiv zu denken, dass es einfach wird, sich um so viele Leute zu kümmern. Aber diese Herausforderung nehmen wir an. Es ist eine Investition in die Zukunft,“ denkt Rein-Cano.

„Gute Nationen müssen einen Weg finden, wie sie verschiedene Talente aus unterschiedlichen Kulturkreisen gewinnen können,“ sagt Rein-Cano. In einer globalisierten Welt sind Kenntnisse über unterschiedliche Ländern und Gebräuche unerlässlich für die Kommunikation und den Handel miteinander. Auch wenn wir uns darüber bewusst sind, welche positiven Aspekte und welchen Gewinn der Tourismus mit sich bringt, sollten wir erkennen, dass die Möglichkeit von wirklichem Kennenlernen und Eintauchen in die andere Lebenswelt dabei nicht besteht. „Wir müssen vorsichtig mit dem Tourismus sein und ihn richtig dosieren,“ glaubt er.

Denkmalpflege und die Betreuung neuer Bauten sei seiner Meinung nach wichtig, den Genius loci schaffen letztendlich aber vor allem die Menschen, die am gegebenen Ort leben: „Es geht nicht darum, eine schöne Architektur, ein öffentliches Design oder etwas Ähnliches zu haben. Die Kraft kommt von den Bewohnern und der Geschichte,“ denkt Rein-Cano.

„Städte sind wie Weine, Früchte oder Bäume. Sie müssen reifen. Wenn Sie gewisse Zutaten haben, kann das besser gelingen. Aber auch wenn Sie alle nötigen Ingredienzen haben, muss es nicht funktionieren. Und manchmal läuft es genau andersrum. Manchmal ist ein Ort absolut langweilig und tot, aber die Veränderungen gehen von den normalen Leuten aus, direkt in deren Alltag,“ fügt der Architekt hinzu.

Ob wir darüber nachdenken, wenn wir beim nächsten Mal unseren eigenen „Stadtcocktail“ mixen?